§ 6 SBGG
Wirkungen der Änderung des Geschlechtseintrags und der Vornamen
(1) Der jeweils aktuelle Geschlechtseintrag und die jeweils aktuellen Vornamen sind im Rechtsverkehr maßgeblich, soweit auf die personenstandsrechtliche Geschlechtszuordnung oder die Vornamen Bezug genommen wird und durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist.
(2) Betreffend den Zugang zu Einrichtungen und Räumen sowie die Teilnahme an Veranstaltungen bleiben die Vertragsfreiheit und das Hausrecht des jeweiligen Eigentümers oder Besitzers sowie das Recht juristischer Personen, ihre Angelegenheiten durch Satzung zu regeln, unberührt.
Die folgenden Ausführungen sollen die Inhalte des Selbstbestimmungsgesetzes verständlich erklären. Es sind noch nicht alle Regelungen kommentiert. Sie bilden unseren jetzigen juristischen Wissensstand ab (Juli 2024). Wir beziehen uns auf den Gesetzestext und die Gesetzesbegründung. Gegebenenfalls ergeben sich zu einem späteren Zeitpunkt Anpassungsbedarfe. Unter dem Menüpunkt ‚Kritik‘ finden sich kritische Einordnungen des Gesetzes aus Perspektive von (Selbstvertretungs-)Organisationen.
In § 6 Abs. 1 SBGG ist die Rechtsfolge der Korrektur von Geschlechtseintrag und Vornamen geregelt.
Grundsatz
Grundsätzlich sind immer der jeweils aktuelle Geschlechtseintrag und der/die jeweils aktuelle(n) Vorname(n) im Rechtsverkehr maßgeblich. Es kommt also immer darauf an, welches Geschlecht und welcher Vorname aktuell eingetragen sind.
Die Rechtsfolge von § 6 Abs. 1 SBGG ist inhaltlich identisch mit der bisherigen Rechtsfolge nach § 10 Abs. 1 TSG und der – nicht explizit geregelten – Rechtsfolge einer Korrektur nach § 45b Abs. 1 PStG.
Bezugnahme auf das personenstandsrechtliche Geschlecht
Die Formulierung „soweit auf die personenstandsrechtliche Geschlechtszuordnung oder die Vornamen Bezug genommen wird“ in § 6 Abs. 1 SBGG schränkt diesen Grundsatz nicht ein. Sie hat nur klarstellende Wirkung. Gemeint ist, dass wie bisher dann auf den Geschlechtseintrag abgestellt werden soll, wenn durch Gesetz Rechte und Pflichten eben an das personenstandsrechtliche Geschlecht geknüpft werden.
Dieses personenstandsrechtliche Geschlecht spielt heute nur noch eine geringe Rolle. Etwa beim Schutz vor Diskriminierung kommt es nicht auf den personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrag, sondern auf die soziale Zuschreibung an, siehe Kurzkommentar zu § 6 Abs. 2 SBGG. Zum Tragen kommen kann es aber zum Beispiel bei Gleichstellungsmaßnahmen, siehe Kurzkommentar zu § 7 SBGG.
Das SBGG selbst sieht Ausnahmen vom Grundsatz der Anknüpfung an das personenstandsrechtliche Geschlecht vor, etwa in § 8, § 9 und § 11 SBGG.
Wirkungen
In § 6 Abs. 2 SBGG ist klargestellt, dass sich an der Rechtslage in den Bereichen der Vertragsfreiheit und dem Hausrecht beim Zugang zu Einrichtungen und Räumen und der Teilnahme an Veranstaltungen durch das SBGG nichts ändert.
Die Vertragsfreiheit und das Hausrecht gelten in Deutschland schon seit langem nicht unbeschränkt. In Bezug auf den Diskriminierungsschutz beim Zugang zu Einrichtungen und Räumen und der Teilnahme an Veranstaltungen ist das wichtigste Gesetz das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Es begrenzt das Vertragsrecht und das Hausrecht. Das AGG verbietet in bestimmten Geschäftsbeziehungen Diskriminierungen aufgrund bestimmter Merkmale.
Geschäftsbeziehungen
Das AGG schützt bei Massengeschäften, das sind vor allem Verträge, die geschlossen werden, ohne dass sich die Vertragsperson konkret ausgesucht wird. Es ist z. B. ein Massengeschäft, wenn ich ins Kino gehe, ins Fitnessstudio, im Supermarkt einkaufe, ein Hotelzimmer miete oder in die Sauna gehe.
Merkmale/Zuschreibungen
Das AGG schützt vor Diskriminierungen aufgrund verschiedener Merkmale, zum Beispiel vor rassistischer Zuschreibung. Es schützt auch vor Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Identität. Jurist*innen streiten sich gelegentlich, ob Trans*geschlechtlichkeit, Intergeschlechtlichkeit oder Nicht-Binarität unter den Begriff „Geschlecht“ oder den Begriff „sexuelle Identität“ fallen. Am Ende ist das aber egal, weil beide Kategorien nach dem AGG gleich geschützt sind. Überzeugender ist es natürlich, trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Personen unter „Geschlecht“ zu fassen, weil es ja eben um Geschlecht geht und nicht um Sexualität oder sexuelle Orientierung.
Wirkung des AGG
Es gilt weiterhin: Ich darf mein Vertrags- und Hausrecht grundsätzlich frei ausüben, darf aber nicht diskriminieren. D.h. ich darf mein Hausrecht ausüben und z.B. Leute nicht in mein Restaurant lassen, weil sie letzte Woche andere Gäste beleidigt haben. Ich darf aber meine Auswahl eben nicht auf die im AGG genannten Kriterien stützen. Denn das ist eine Diskriminierung. Und Diskriminierung ist nach dem AGG etwa bei Massengeschäften verboten.
Merkmal „Geschlecht“
Eine wichtige Frage für den Schutz vor Diskriminierung ist, wie Geschlecht im AGG bestimmt wird. Gilt der personenstandsrechtliche Geschlechtseintrag? Kann ich nach dem Verständnis des AGG nur sexistisch diskriminiert werden, wenn mein Geschlechtseintrag „weiblich“ ist? Kann ich nur dann als nicht-binäre Person diskriminiert werden, wenn mein Geschlechtseintrag „divers“ ist?
Das Oberlandesgericht Frankfurt hat in einer wichtigen Entscheidung klargestellt, dass es im Rahmen des AGG nicht auf den Geschlechtseintrag ankommt. Es kommt auf die Geschlechtsidentität an. Das OLG Frankfurt bestätigte, dass es eine Diskriminierung ist, wenn eine nicht-binäre Person beim Ticketkauf zwingend zwischen „männlich“ und „weiblich“ auswählen muss. Wenn ihre Identität nicht-binär ist, ist es im Rahmen des AGG egal, wenn die Person „männlich“ oder „weiblich“ als Geschlechtseintrag hat (OLG Frankfurt a. M. Urteil vom 21.6.2022 – 9 U 92/20). Daran ändert auch § 6 Abs. 1 SBGG nichts. Denn er besagt ja gerade, dass der aktuelle Geschlechtseintrag nur da bestimmend sein soll, wo auf die personenstandsrechtliche Zuordnung Bezug genommen wird. Das ist im Antidiskriminierungsrecht nicht so.
Außerdem muss beachtet werden, dass Geschlecht im Einklang mit dem Grundgesetz und dem Recht der Europäischen Union zu verstehen ist. So besagt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass Operationen keine Voraussetzung für die Änderung des rechtlichen Geschlechtseintrags sein dürfen (BVerfG, Beschluss vom 11.01.2011 – 1 BvR 3295/07). Daraus ergibt sich, dass in der grundgesetzlichen Ordnung Geschlecht nicht an einen bestimmten Körper geknüpft werden darf. Frauen dürfen daher nicht aus Frauenräumen ausgeschlossen werden, weil ihre Brüste zu klein sind oder ihre Genitalien eine angeblich falsche Form haben.
Erlaubte Ungleichbehandlungen nach dem AGG Manchmal lässt das AGG Ungleichbehandlungen zu. Zum Beispiel sind nach § 5 AGG Fördermaßnahmen für Frauen gegenüber Männern zulässig, um historisch gewachsene Ungleichheiten auszugleichen.
Bei Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts ist außerdem § 20 AGG relevant. Er sagt, dass Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts gerechtfertigt sein können, wenn sie einem sachlichen Grund dienen. Ist eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt, stellt sie keine verbotene Diskriminierung dar. § 20 Abs. 1 Nr. 2 AGG nennt als einen solchen sachlichen Grund insbesondere den Schutz der Privatsphäre. Man könnte auf die Idee kommen, dass dann ja bestimmte Frauen ausgeschlossen werden könnten, wenn die anderen sich in ihrer Privatsphäre verletzt fühlen. Doch bei der Auslegung ist wiederum das Grundgesetz zu beachten. Zwar müssen sich Privatpersonen nicht in derselben Weise ans Grundgesetz halten wie der Staat. Aber wenn staatliche Gesetze ausgelegt werden, gilt das Grundgesetz. Wenn § 20 Abs. 1 Nr. 2 AGG ausgelegt wird, dürfen die Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts nicht ignoriert werden. Menschen auf ihre Körper zu reduzieren, widerspricht dem Grundgesetz. Hier muss ein angemessener Ausgleich der beteiligten Interessen gefunden werden, der sich nicht allein auf Vorurteile gegenüber trans* Personen stützt.