Bestehende Kritik am Selbstbestimmungsgesetz
Obwohl das Selbstbestimmungsgesetz einen grundsätzlichen rechtlichen Wandel herbeiführt – von dem Verständnis geschlechtlicher Vielfalt als krank zur Selbstbestimmung über den Geschlechtseintrag – enthält das Gesetz zahlreiche diskriminierende Darstellungen und Regelungen. Die Kritik von trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Einzelpersonen sowie zahlreichen Verbänden während des Gesetzgebungsprozesses wurde überwiegend nicht beachtet. Auch nach der Verabschiedung des Gesetzes bleibt die Kritik daher an folgenden Regelungen bestehen:
§ 1 SBGG
Anwendungsbereich
Für geflüchtete trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Personen im laufenden Asylverfahren ist ein passender, selbstbestimmter Geschlechtseintrag von enormer Bedeutung. Das Recht auf selbstbestimmte Änderung von Geschlechtseintrag und Vornamen gilt für jede Person und darf nicht vom Aufenthaltsstatus abhängig gemacht werden. Zu der Situation von Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit wurden zwar nachträglich Anmerkungen im parlamentarischen Verfahren ergänzt, rechtssicherer wäre aber eine Klarstellung im Gesetzestext. Weiterhin unklar ist die Rechtslage für staatenlose Personen, die keine dauerhafte oder verlängerbare Aufenthaltserlaubnis besitzen.
Es ist nicht mehr möglich, Geschlechtseintrag und Vornamen unabhängig voneinander zu ändern. Es ist nicht mehr möglich allein den Vornamen zu ändern, wie es das TSG („Transsexuellengesetz“) vorsah. Auch die Beibehaltung eines Vornamens, wie sie der § 45b PStG (Personenstandsgesetz) erlaubte, gestaltet sich schwieriger. Für diese Einschränkung der geschlechtlichen Selbstbestimmung gibt es keine hinreichende Begründung. Dadurch wird das Gesetz der Vielfalt geschlechtlicher Identitäten und der Lebensrealität queerer Personen nicht gerecht. So kann z.B. eine nicht-binäre Person einen geschlechtsneutralen Vornamen tragen, aufgrund von Angst vor Diskriminierungserfahrungen jedoch ihren bisherigen Geschlechtseintrag behalten wollen.
Im Gesetz fehlt außerdem eine deutliche Klarstellung, dass die Standesämter keinerlei Prüfkompetenz im Hinblick auf die Erklärung einer Person haben. Nur die Selbstauskunft allein zählt.
§ 2 Abs. 3 SBGG
Geschlechtseintrag & Vornamen
§ 2 Abs. 4 SBGG
Die Nichtgültigkeit von Erklärungen von Menschen mit Aufenthaltstitel
Die Widerrufung der Änderung von Geschlechtseintrag und Vornamen, wenn in einem Zeitraum von zwei Monaten nach der Erklärung ein “Ereignis[,] das zum Erlöschen des Aufenthaltstitels führt”, eintritt, gefährdet geflüchtete Menschen. Sogar Menschen, in deren Asylbescheiden ihre Verfolgung aufgrund von Nichtbinarität, Trans*- und Intergeschlechtlichkeit anerkannt wird, können davon betroffen sein.
Minderjährige ab 14 Jahren können die Erklärung vor dem Standesamt nur mit Zustimmung ihrer gesetzlichen Vertreter*innen abgeben. Stimmen diese nicht zu, kann die Einwilligung durch das Familiengericht ersetzt werden. Dieses gerichtliche Verfahren ist eine hohe Hürde für jugendliche trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Personen, die keine Unterstützung durch ihre Sorgeberechtigten haben. Es darf außerdem nicht zur Wiedereinführung einer Fremdbestimmung für Minderjährige führen, bei dem es auf gerichtlich bestellte Sachverständige und nicht auf die Selbstauskunft der Betroffenen ankommt. Gleiches gilt für die minderjährigen Personen vorgeschriebene Abgabe einer Erklärung, Beratung in Anspruch genommen zu haben.
Das Gesetz sieht keine Beratungspflicht vor. Es ist darauf zu achten, dass die Vorschrift in der Praxis nicht zu einer versteckten Begutachtung führt.
Bei unter 14-jährigen können nur die gesetzlichen Vertreter*innen die Erklärung abgeben, die Minderjährigen müssen jedoch einverstanden sein. Die vage Ausführung hierzu, Standesbeamt*innen könnten sich persönlich „davon überzeugen“, dass die Erklärung nicht gegen den Willen der vorgeladenen minderjährigen Person abgegeben wird, ist bedenklich. Sie könnte zu Fehlauslegungen und Kompetenzüberschreitungen führen.
Insgesamt muss bei Kindern und Jugendlichen darauf geachtet werden, dass spezifische Regelungen im Selbstbestimmungsgesetz einer Änderung von Geschlechtseintrag und Vornamen nicht im Wege stehen, sondern diese möglichst selbstbestimmt ermöglichen.
Für eine geschäftsunfähige volljährige Person, für die in dieser Angelegenheit eine gesetzliche Betreuung bestellt ist, kann nur diese die Erklärung abgeben. Die zusätzliche Anforderung, dass auch das Betreuungsgericht die Änderung genehmigen muss, stellt eine weitere hohe Hürde dar. Das ist zu kritisieren: Die eigene geschlechtliche Zugehörigkeit ist höchstpersönlich.
§ 3
Erklärungen von Minderjährigen und Personen mit Betreuer
§ 4
Anmeldung beim Standesamt
Vor Abgabe der Erklärung vor dem Standesamt besteht eine dreimonatige Anmeldefrist. Diese Einschränkung greift in das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung ein und ist nicht hinreichend begründet. Die Ausführung in der Gesetzesbegründung, die Frist diene als Überlegungs- oder Reflexionszeitraum, arbeitet mit der Annahme, trans*, intergeschlechtliche oder nicht-binäre Personen änderten ihre(n) Geschlechtseintrag und Vornamen aus einer spontanen Laune heraus. Dies entspricht queeren Lebensrealitäten nicht.
Wer nach dem SBGG seinen Geschlechtseintrag ändert, kann eine erneute Änderung frühestens nach einem Jahr vornehmen. Auch diese Einschränkung ist nicht hinreichend begründet und unverhältnismäßig.
§ 5
Sperrfrist der Änderungen
§ 6
Wirkungen der Änderung des Geschlechtseintrags und der Vornamen
Der Hinweis auf das Hausrecht und die Vertragsfreiheit in § 6 Abs. 2 SBGG lädt zu Diskriminierungen insbesondere von trans* Frauen und trans*femininen Personen beim Zugang zu geschlechtsspezifischen Räumen ein. Diesen Eindruck verstärken zudem die detaillierten Ausführungen in der Gesetzesbegründung, die ausführlich den Zugang bzw. Ausschluss von geschlechtergetrennten Räumen diskutieren. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts verbietet, wird durch das SBGG nicht geändert. Es ist dennoch zu befürchten, dass die öffentliche Diskussion zum Selbstbestimmungsgesetz sowie die Ausführungen in der Gesetzesbegründung dazu beigetragen haben, dass vor allem trans* Frauen und trans*feminine Personen vermehrt aus geschlechtergetrennten Räumen ausgeschlossen werden. Es ist davon auszugehen, dass das Diskriminierungsrisiko dieser besonders vulnerablen Personengruppen steigt, weil Ängste geschürt wurden und an vielen Stellen unklar blieb, welche antidiskriminierungs- und grundrechtlichen Grundsätze es zu respektieren gilt.
Die Regelung, dass Änderung des Geschlechtseintrags weg von einem männlichen Eintrag kurz vor einem Spannungs- oder Verteidigungsfall nur teilweise anerkannt werden, ist zu kritisieren. Sie spiegelt den Fokus auf etwaigen Missbrauch durch das Gesetz und das starke Misstrauen gegenüber trans* Frauen und trans*femininen Menschen wider.
§ 9
Zuordnung zum männlichen Geschlecht im Spannungs- und Verteidigungsfall
§ 11
Eltern-Kind-Verhältnis
Die Regelungen setzen die Falscheintragung von trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Person fort und eine grundlegende Reform des Abstammungsrechts, die für die Legislaturperiode angekündigt wurde, steht weiterhin aus. Weiterhin ist die zweite Elternstelle nur für Personen mit männlichen Geschlechtseintrag ohne Adoptionsverfahren zugänglich. Es besteht allerdings die Wahlmöglichkeit für Personen, denen bei Geburt das männliche Geschlecht eingetragen wurde, dass bei ihnen der Geschlechtseintrag vor der Änderung maßgeblich sein soll, was zumindest in diesen Fällen Gerichtsverfahren zur Anerkennung der Vaterschaft vermeidet. Somit wurde zumindest eine Verschlechterung, beispielsweise für trans* Frauen und trans*feminine Personen abgewendet, die zwischenzeitlich diskutiert wurde.
Das Offenbarungsverbot, das bereits im TSG trans* Personen vor Diskriminierung schützen sollte, wird durch das Selbstbestimmungsgesetz gestärkt. Zum ersten Mal ist es nach SBGG möglich, bei Offenbarung und Ausforschung der vorherigen Geschlechtsangabe und/oder Vornamen einer Person auch ein Bußgeld zu verhängen. Dies gilt allerdings nur, wenn eine Schädigungsabsicht nachgewiesen wird. Eine hinreichende Sanktionierung von „Deadnaming“ und „Misgendering“ steht weiterhin aus und es bestehen somit Schutzlücken. Die Formulierung in § 14 SBGG, es ginge um Offenbarungen der Geschlechtszugehörigkeit, folgt zudem diskriminierenden Vorstellungen, nach denen das bei Geburt zugewiesene Geschlecht das “richtige Geschlecht” sei.
§§ 13, 14
Offenbarungsverbot & Bußgeldvorschriften
Weiteres
Passgesetz
Personen mit den Geschlechtseinträgen “divers” oder “keine Angabe”, müssen eine ärztliche Bescheinigung vorlegen können, um einen Reisepass mit binärem Geschlechtseintrag ausgestellt zu bekommen, um in bestimmte Länder auch nach Anpassung mittels SBGG reisen zu können. An dieser Stelle wird eine Attestpflicht und eine Unterscheidung von nicht-binären trans* und intergeschlechtlichen Personen aufrechterhalten, die durch das Selbstbestimmungsgesetz eigentlich abgeschafft werden sollte.
Ihr teilt unsere Kritik oder habt weitere?
Meldet euch gerne bei den Beratungsstellen vor Ort.